Die Historiographie der Astrologie beleuchtet nicht nur die Entwicklung einer Deutungs- und Vorhersagepraxis, sondern auch ihre kulturelle, philosophische und wissenschaftliche Transformation über zwei Jahrtausende. Sie reflektiert den Wandel menschlicher Weltbilder – von der harmonischen Kosmologie der Antike über monotheistische Anpassungen bis hin zu moderner Psychologie und Digitalisierung. Im Folgenden wird die Geschichte chronologisch dargestellt, wobei der Fokus auf der Spätantike und dem Frühmittelalter (1.–7. Jahrhundert n. Chr.) liegt. Dieser Abschnitt wird besonders ausführlich behandelt, ergänzt durch primäre Quellen, historiographische Debatten und Kontexte der Transmission. Die nachfolgenden Epochen bauen darauf auf und zeigen die Kontinuität sowie Anpassungsfähigkeit der Astrologie.
1. Spätantike und Frühmittelalter (1.–7. Jahrhundert n. Chr.)
Die Spätantike und das Frühmittelalter markieren den Übergang von der hellenistischen Blütezeit zur christlich geprägten Welt, in der die Astrologie ihre klassische Form konsolidierte, aber auch zunehmend unter theologischen und politischen Druck geriet. Historiographisch gesehen basiert diese Epoche auf einer Synthese mesopotamischer (babylonischer Omen- und Tierkreis-Traditionen), ägyptischer (Dekan-Systeme für Zeit- und Schicksalsmessung) und griechischer Elemente (philosophische Kausalität nach Aristoteles und Stoa), die im Hellenismus (ab 3. Jh. v. Chr.) zu einer systematischen Wissenschaft verschmolzen. Die römische Kaiserzeit (1.–3. Jh. n. Chr.) popularisierte die personale Horoskopastrologie, die individuelle Geburtshoroskope (Genethlialogie) betonte, und etablierte sie als Hilfswissenschaft der Astronomie innerhalb der Sieben Freien Künste. Im 4.–7. Jh. schwächte sich die Astrologie im Westen durch die Christianisierung und den Fall des Weströmischen Reiches (476 n. Chr.) ab, während sie im Oströmischen (Byzantinischen) Reich und im Sassanidenreich erhalten blieb und in gnostische, neuplatonische sowie manichäische Strömungen integriert wurde. Die Transmission erfolgte primär über griechische und syrische Manuskripte aus Alexandria und Konstantinopel, die später ins Arabische und Persische übersetzt wurden – ein Prozess, der die Grundlage für die islamische Renaissance legte.
Ursprünge und hellenistische Grundlagen (Vorbereitung auf die Epoche): Die babylonischen Wurzeln reichen bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurück, mit Omen-Texten wie dem Enūma Anu Enlil, die Himmelsereignisse (z. B. Finsternisse) als Vorzeichen für Erdgeschehen deuteten. Ägyptische Dekane (36 Sternbilder pro Jahr) dienten der Kalender- und Prognostik, während der hellenistische Einfluss (nach Alexander dem Großen) den Tierkreis (12 Zeichen à 30°) und den Aszendenten (aufsteigendes Zeichen am Horizont) einführte. Berossos, ein babylonischer Priester des 3. Jh. v. Chr., soll astrologische Schulen auf Kos gegründet haben, was die Übertragung ostmediterraner Kenntnisse in den Westen einleitete. Historiographisch wird diese Synthese als „individualistische Wende“ beschrieben: Von kollektiven Omen zur persönlichen Schicksalsdeutung, gefördert durch stoische Harmonie-Ideen des Kosmos als kausalem Ganzes.
Römische Kaiserzeit (1.–3. Jh. n. Chr.): Popularisierung und Systematisierung In Rom erlangte die Astrologie ab dem 1. Jh. n. Chr. massenhafte Verbreitung, verbunden mit Mysterienkulten wie dem Mithraskult und stoischer Rechtfertigung. Sie diente nicht nur privater Beratung, sondern auch politischer Legitimation: Kaiser wie Tiberius (der Astrologen konsultierte), Augustus (der sie regulierte, um Missbrauch zu verhindern) und Hadrian (dessen Horoskop gefälscht wurde) machten sie zum Hofinstrument. Satiriker wie Lukian von Samosata kritisierten den Fatalismus, doch die Praxis blühte – von Straßenastrologen bis zu elitären Beratern.
Die prägende Gestalt war Claudius Ptolemäus (ca. 100–170 n. Chr.), ein alexandrinischer Gelehrter, dessen Tetrabiblos (Vierbücher) die Grundlage der westlichen Astrologie schuf. Dieses Werk – in vier Büchern gegliedert – systematisiert die Grundlagen (Tierkreis, Planeten, Aspekte), Mundanastrologie (Weltgeschehen), Genethlialogie (persönliche Horoskope) und iatrische Anwendungen (medizinische Astrologie). Ptolemäus verstand Astrologie als rationale Naturwissenschaft, analog der Meteorologie: Himmelskörper „strahlen“ Einflüsse auf Klima, Temperament und Stoffwechsel aus, ohne moralische Determinismen zu fordern. Er trennte sie von Aberglauben, indem er Vorhersagen als Tendenzen (nicht Schicksale) sah, und integrierte aristotelische Physik (vier Elemente: Feuer, Erde, Luft, Wasser). Übersetzungen wie die von F. E. Robbins (1940) machen es zugänglich; historiographisch gilt es als Brücke zwischen Philosophie und Empirie.
Ein weiteres Schlüsselwerk ist die Anthologiae (ca. 150 n. Chr.) von Vettius Valens, ein neunbändiges Kompendium mit 121 Beispielhoroskopen, das empirische Techniken (Häuser, Aspekte, Planetenstunden) detailliert und mystisch-religiöse Elemente einbringt. Es unterstreicht die Praxis der Katarchen-Horoskope (günstige Zeitpunkte wählen). Entwicklungen umfassten die Zuordnung von Tierkreiszeichen zu Körperteilen (z. B. Widder = Kopf) in der iatrischen Astrologie, die Medizin mit kosmischen Rhythmen verknüpfte. Transmission: Über römische Schulen und Höfe; Vertreibungen (z. B. unter Domitian) behinderten, aber nicht stoppten die Verbreitung.
Spätantike (3.–7. Jh. n. Chr.): Christianisierung und Krisen Ab dem 3. Jh. geriet die Astrologie unter Druck: Diokletian verbot sie 303 n. Chr. als „Wissenschaft der Lüge“, und das Christentum sah in ihr eine Konkurrenz zur göttlichen Vorsehung. Kirchenväter wie Augustinus (De civitate Dei, 5. Buch) kritisierten den Determinismus als unvereinbar mit freiem Willen, doch integrierten biblische Motive (z. B. Stern von Bethlehem als Omen in Mt 2). Gnostiker und Neuplatoniker (z. B. Plotin) adaptierten sie, während das Konzil von Laodicea (365 n. Chr.) und Braga (572 n. Chr.) sie für Kleriker verboten. Dennoch blühte sie in byzantinischer Hofkultur: Rhetorios (ca. 500–600 n. Chr.) erweiterte Valens‘ Werke, und Stephanos von Alexandria (ca. 610–641 n. Chr.), ein Philosoph unter Kaiser Herakleios, harmonisierte Astrologie mit Christentum in Abhandlungen zu Harmonie und Vorsehung. Horoskope für Kaiser wie Zenon (5. Jh.) oder Justinian I. (6. Jh.) überliefern politische Anwendungen.
Im Westen versiegte die gelehrte Astrologie nach 476 n. Chr., überlebte aber in Klöstern (z. B. bei Isidor von Sevilla, der natürliche Astrologie – z. B. Astromedizin – akzeptierte, judiziarische ablehnte). Im Osten floss sie ins Sassanidenreich (z. B. Übersetzungen von Dorotheos und Valens ins Mittelpersische) und bereitete die islamische Aufnahme vor. Historiographische Quellen: Catalogus Codicum Astrologorum Graecorum (byzantinische Handschriften); moderne Analysen wie David Pingree (2001) zur Transmission oder Stephan Heilen (2015) zu römischen Horoskopen. Kritik: Jüdische Texte (Talmud) befreiten durch Tora von Sterneneinfluss; christliche Polemiken betonten Häresie. Insgesamt zeigt diese Epoche die Resilienz der Astrologie: Sie passte sich monotheistischen Kontexten an, indem sie von fatalistisch zu tendenziell wurde, und legte den Grundstein für medizinische und philosophische Anwendungen.
Quellen und Literatur: Ptolemäus, Tetrabiblos (übers. Robbins, 1940); Vettius Valens, Anthologiae (übers. Holden, 2006); Sekundärliteratur: Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie (2003); David Pingree, From Alexandria to Bagdad (2001).
2. Islamisches Goldzeitalter (8.–13. Jahrhundert)
Mit der Übersetzung griechischer Texte ins Arabische wurde die Astrologie im islamischen Kulturraum intensiv studiert. Astrologen wie Al-Bīrūnī (973–1048) und Al-Kindī (ca. 801–873) systematisierten astrologische Techniken und integrierten sie in die Philosophie und Naturwissenschaft. Die astronomischen Grundlagen (Beobachtungen von Planetenbewegungen, mathematische Tabellen) wurden stark weiterentwickelt, sodass die Astrologie auf präziseren Daten basierte.
Diese Epoche gilt als entscheidend für die Transmission der Astrologie nach Europa, insbesondere über Spanien und Sizilien während der Scholastik. Arabische Werke wurden ins Lateinische übersetzt und beeinflussten Scholastiker wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin, die zwischen naturwissenschaftlicher und metaphysischer Astrologie unterschieden.
Quellen und Literatur: Al-Bīrūnī, Kitab al-Tafhim; Kennedy, The Exact Sciences in Islam.
3. Mittelalterliches Europa (12.–15. Jahrhundert)
Mit den Übersetzungen arabischer Werke gelangte die astrologische Wissenschaft ins mittelalterliche Europa. Universitäten wie Bologna und Paris integrierten astrologische Lehre in den Lehrplan, insbesondere in der Medizin und Astronomie.
Die Astrologie wurde zunehmend mit der Philosophie des Aristoteles verbunden, wobei Planeten als Vermittler natürlicher Einflüsse galten. Bedeutend war die Unterscheidung zwischen „deterministischer“ und „tendenzieller“ Astrologie, um theologische Konflikte zu vermeiden.
Bekannte europäische Astrologen: Guido Bonatti (13. Jh.), Jean de Murs.
4. Renaissance und Humanismus (15.–17. Jahrhundert)
Die Renaissance brachte eine Wiederbelebung klassischer Texte und eine Integration der Astrologie in Humanismus und Kunst. Astrologie war weit verbreitet, und Herrscher nutzten Astrologen als Berater (z. B. Kaiser Rudolf II., der Tycho Brahe unterstützte).
Astronomie vs. Astrologie: Mit der Entwicklung präziserer astronomischer Instrumente, etwa durch Tycho Brahe und später Kepler, verschob sich die Grenze zwischen mathematischer Astronomie und astrologischer Deutung. Kepler selbst praktizierte Astrologie, sah sie jedoch zunehmend kritisch und betonte die physikalischen Ursachen von Himmelsphänomenen.
Die Renaissance gilt als Höhepunkt der horoskopischen Kunst, besonders in Verbindung mit Medizin, Landwirtschaft und Politik.
Quellen: Kepler, Tertius Interveniens; Lilly, Christian Astrology.
5. Aufklärung (17.–18. Jahrhundert)
Im Zeitalter der Aufklärung begann die Astrologie, unter den Druck der wissenschaftlichen Rationalisierung zu geraten. Astronomie wurde zunehmend als empirische Wissenschaft betrachtet, während Astrologie häufig als Aberglaube abgetan wurde. Dennoch existierten noch astrologische Lehrbücher, z. B. von William Lilly in England.
Charakteristika:
- Skepsis gegenüber deterministischen Deutungen
- Betonung moralischer und psychologischer Interpretationen
- Astrologie blieb populär bei breiten Bevölkerungsschichten, aber ihr akademischer Status ging verloren
6. – 19. Jahrhundert: Neubelebung und Reformen
Im 19. Jahrhundert entstand eine Wiederbelebung astrologischer Systeme, oft verbunden mit Okkultismus, Theosophie und Spiritualismus. Bedeutende Strömungen:
- Psychologische Astrologie: Verbindung von Charakteranalyse mit menschlicher Entwicklung (Vordenker: Alan Leo).
- Symbolische Deutungen: Planeten als Archetypen der menschlichen Psyche, nicht nur als Himmelskörper.
Dies war die Epoche der modernen westlichen Astrologie, die noch heute in den populären Horoskopen sichtbar ist.
Quellen: Alan Leo, Astrology for All (1903); Theosophische Schriften.
7. 20. und 21. Jahrhundert: Wissenschaftskritik und Popularisierung
Astrologie wurde in der modernen Wissenschaft als pseudowissenschaftlich klassifiziert, insbesondere nach der Entwicklung der statistischen und psychologischen Methoden. Trotzdem erlebte sie mehrere Wellen der Popularisierung:
- New Age und psychologische Astrologie (1970er–1980er): Fokus auf Selbsterkenntnis, Archetypen, Lebensberatung
- Computerastrologie (1990er–heute): Exakte Berechnung von Geburtshoroskopen, Transiten, Progressionen
- Astrologie in sozialen Medien (2000er–heute): Breite Popularisierung durch Apps, Webseiten und Social Media
Parallel zur Popularisierung entstanden auch kritische Studien über Astrologie, z. B. statistische Untersuchungen der Geburtsdaten versus Persönlichkeitsmerkmale. Klassische Autoren wie Ptolemäus, Lilly und Kepler werden heute im historischen Kontext studiert.
Wissenschaftliche Quellen: Carlson, Shawn, A Double-Blind Test of Astrology, Nature 1985; Campion, Nicholas, The History of Astrology, 2009.
Zusammenfassung der Historiographischen Entwicklung
Epoche | Merkmale | Schlüsselpersonen | Schwerpunkte |
---|---|---|---|
1.–7. Jh. | Hellenistisch-römische Astrologie, Systematisierung durch Ptolemäus; Christianisierung und Transmission nach Osten | Claudius Ptolemäus, Vettius Valens | Natürliche Kausalität, Charakteranalyse, iatrische Astrologie |
8.–13. Jh. | Islamisches Goldzeitalter, mathematische Präzisierung, Übersetzungstätigkeit | Al-Kindī, Al-Bīrūnī, Abū Maʿshar | Astralphysik, Integration mit Philosophie, Transmission ins Abendland |
12.–15. Jh. | Europäische Scholastik, Universitätsdisziplin | Guido Bonatti, Jean de Murs | Medizinische und natürliche Astrologie, theologische Unterscheidung |
15.–17. Jh. | Renaissance, Hofastrologie, Kunst | Kepler, Ficino, Tycho Brahe | Humanistische Kosmologie, astrologische Reform, Astronomie-Trennung |
17.–18. Jh. | Aufklärung, Rationalisierung | William Lilly | Popularastrologie, moralische Deutung |
19. Jh. | Okkultismus, Theosophie, Psychologie | Alan Leo | Esoterische und psychologische Integration |
20.–21. Jh. | Wissenschaftskritik, Digitalisierung | Rudhyar, Greene, Campion | Archetypische Psychologie, App-basierte Popularisierung |
Die Astrologie zeigt über die letzten 2000 Jahre eine bemerkenswerte Resilienz, indem sie sich stets an neue wissenschaftliche, philosophische und kulturelle Kontexte angepasst hat. Von der rationalen Naturlehre Ptolemäus‘ bis zur digitalen Selbsterkenntnis heute manifestiert sie sich als Spiegel menschlicher Deutungsbedürfnisse – eine Chronik der Transformation, die kulturelle Brüche überdauert hat.
*****************************
Patrick Currys Diskussion der Historiographie der Astrologie – Diagnosis und Prescription
Auf Basis der zuvor dargestellten Historiographie der Astrologie – die die Entwicklung von der Spätantike über das Islamische Goldzeitalter bis zur modernen Popularisierung als eine kontinuierliche Anpassung an kulturelle und wissenschaftliche Kontexte beschreibt – widmet sich Patrick Curry, ein britischer Historiker und Astrologie-Forscher, in seinem einflussreichen Aufsatz The Historiography of Astrology: A Diagnosis and a Prescription (2003) einer metahistorischen Reflexion. Curry, Autor von Werken wie Prophecy and Power: Astrology in Early Modern England (1989), kritisiert die herrschende historiographische Behandlung der Astrologie als verzerrt und anachronistisch. Er plädiert für eine partizipative, reflexive Herangehensweise, die Astrologie nicht als Relikt irrationaler Vergangenheit, sondern als lebendige „Ontologie“ – eine Form des Seins und Wissens – versteht. Diese Perspektive ergänzt die chronologische Darstellung, indem sie die kulturelle Marginalisierung der Astrologie (z. B. in der Aufklärung oder Moderne) als Machtdynamik entlarvt und für eine pluralistische Geschichtsschreibung eintritt.
Currys Diagnosis: Die Probleme der aktuellen Historiographie
Curry diagnostiziert die Historiographie der Astrologie als geprägt von Anachronismus, Positivismus-Resten (RUP) und fehlender Reflexivität, was zu einer teleologischen Erzählung führt: Die Astrologie wird als „Aberglaube“ dargestellt, der durch die „Sieg der Rationalität“ (z. B. in der Aufklärung) überwunden wurde, anstatt als integraler Bestandteil vor-modemer Kulturen analysiert zu werden. Diese Herangehensweise projiziert moderne Skepsis auf die Vergangenheit und reduziert Astrologie auf psychologische oder soziale Funktionen, ohne ihre ontologische Realität für Praktizierende anzuerkennen – ähnlich wie in der zuvor beschriebenen Christianisierung der Spätantike, wo sie als Konkurrenz zur göttlichen Vorsehung marginalisiert wurde.
Ein zentraler Vorwurf ist der Anachronismus: Historiker fragen „Warum haben sie an Astrologie geglaubt?“, statt „Warum haben sie aufgehört, daran zu glauben?“ Curry kritisiert Keith Thomas‘ Religion and the Decline of Magic (1971) als paradigmatisch: Thomas erklärt magische Praktiken wie Astrologie als „ineffektiv“ und auf unbewusste Bedürfnisse zurückführend, was die Vergangenheit als rückständig pathologisiert. Hildred Geertz kontert, dass nicht der „Niedergang“ der Magie, sondern der Aufstieg des Labels „Magie“ mit negativen Konnotationen erklärt werden müsse (Geertz 1975: 76). Curry verknüpft dies mit der breiteren Kulturgeschichte: In der Renaissance oder im Mittelalter war Astrologie (z. B. bei Kepler) ein Werkzeug der Macht und des Wissens, doch die Historiographie ignoriert dies zugunsten einer Fortschrittsnarrative, die Säkularismus als Triumph darstellt. Ähnlich sieht er in Anthony Graftons Cardano’s Cosmos (1999) „historiographische Epizyklen“: Grafton spiegelt Astrologie als soziales Abbild wider (z. B. Ängste der Renaissance-Gesellschaft in Horoskopen), bleibt aber bei einer funktionalistischen Sicht, die Astrologie als epiphenomenal zu „offiziellen Realitäten“ degradiert.
Der Positivismus (RUP) reduziert Astrologie auf eine „psychologische Haltung“ oder Symbolsystem, statt als partizipative Welt zu sehen. Curry zitiert E.P. Thompson: Die Übersetzung astrologischer Symbole in rationale Argumente verliert „einen Teil ihrer Bedeutung und all ihre psychische Zwangskraft“ (Thompson 1972: 49). In der islamischen oder mittelalterlichen Epoche, wo Astrologie mit Philosophie (z. B. bei Al-Bīrūnī) verschmolz, wird sie so entleert. Thomas‘ Verteidigung – Magie habe auf „vermeintlicher Wirksamkeit“ beruht – impliziert eine Überlegenheit des Modernen: „Wir wissen, und was wir wissen, ist die Wahrheit; sie glauben nur“ (Thomas 1975: 101–102). Dies verstärkt hegemoniale Machtdynamiken, wie in der frühneuzeitlichen England, wo Anti-Astrologie-Mentalitäten Eliten legitimierten (Curry 1989).
Fehlende Reflexivität verschärft dies: Historiker reflektieren nicht ihre eigene Position als „Wahrheitsträger“, was zu ethnozentrischen Verzerrungen führt, vergleichbar mit Evans-Pritchards Sicht auf Azande-Divinatory als intellektuell begrenzt (1937: 338). Curry lobt Ausnahmen wie Ann Genevas Astrology and the Seventeenth-Century Mind (1995), die William Lillys Astrologie ernst nimmt, kritisiert aber den Mainstream für das Weglassen „wesentlicher Daten“ und die Schaffung fragmentierter Subjekte statt „ganzer und lebendiger“ historischer Akteure.
Currys Prescription: Wie die Historiographie diskutiert werden sollte
Curry schlägt eine radikale Wende vor: Von der Objektivierung als „Glaube“ zu einer reflexiven Partizipation in der Ontologie der Astrologie, inspiriert von Anthropologie (z. B. Edith Turner, Susan Greenwood) und zeitgenössischer Astrologie (Geoffrey Cornelius). Astrologie sei eine „Form des Lebens“ (Wittgenstein 1953: 241) – eine partizipative Praxis, die „primäre Wahrheit“ birgt, gleichwertig zur wissenschaftlichen. Dies passt zur Resilienz der Astrologie in der Historiographie: Von Ptolemäus‘ rationaler Naturwissenschaft bis zur psychologischen Moderne (z. B. Alan Leo) zeigt sie Anpassungsfähigkeit, die durch partizipative Geschichtsschreibung sichtbar wird. Die Historiographie solle pluralistisch sein, Vernunft „provinzialisieren“ (Chakrabarty 2000: 249) und Astrologie als Divination – Ritual der Unsicherheit und Agency – in die Kultur- und Sozialgeschichte einbetten, um menschliche Bedingungen wie Macht (z. B. in der Renaissance-Hofastrologie) zu enthüllen.
Konkrete methodische Regeln:
1a. Idealerweise sollte der Historiker die „Wahrheit der Astrologie in Aktion“ selbst erlebt haben, „ohne nachträgliche Diskreditierung als metaphysisch, ideologisch oder persönlich inakzeptabel“ (Curry 2003: 293). 1b. Alternativ ein äquivalentes Erlebnis (z. B. rituelle Partizipation) und die Gewohnheit, es zu integrieren – da solche Erfahrungen „in jedem Leben“ vorkommen (contra modernistischen Automatismus; Latour 1993).
- Bei erhaltenen Horoskopen: Ausreichende astrologische Kompetenz, um sie zu interpretieren (allerdings unzureichend allein).
Diese Regeln fordern eine „doppelte Hermeneutik“: Denken wie die Subjekte, ohne eigene Vulnerabilität zu leugnen (Chakrabarty 2000: 239). Anthropologisch: Von Funktionalismus zu „Going Native“ (Turner 1992: 2, wo ein Ritualobjekt „sowohl Geist als auch Zahn“ ist). Greenwood fordert, die „Sprache einer anderen Realitätsmodus“ zu lernen (2000: 49). Gegen „Glaube“ plädiert Curry für Fokus auf Praktiken: Astrologie als „Ontologie, das heißt Welten“ (Geertz 1975: 83). Cornelius‘ „primäre Scholarship“ ehrt die „phänomenologische ‚primäre Wahrheit'“ (2004: 108), ohne Wissenschaft zu privilegieren. Historiker müssen interdisziplinär sein (z. B. Science Studies‘ Symmetrie-Prinzip; Shapin & Schaffer 1985) und „negative Fähigkeit“ (Keats) üben, um Objektivität als Parteinahme zu entlarven (Hutton 2003: 289–290).
Zusammenfassend transformiert Currys Ansatz die Historiographie: Statt Linearer (von Antike zu Moderne) wird sie plural und lebendig, enthüllend, wie Astrologie „voll menschlich“ (Curry 2003: 295) Macht, Ritual und Wissen durchdringt. Dies bereichert die zuvor skizzierte Entwicklung, indem es die „Resilienz“ als ontologische Stärke rahmt, nicht nur als Anpassung.